Die Entartung beginnt mit hartnäckigem Verstehenwollen

La Casa Encendida, Madrid
feb/mar 2006

Die wahre Wildnis ist das Land der Weißen

Die Erde der Köder

Ihr habt für die Casa Encendida in Madrid eine Installation realisiert, die aus drei Teilen besteht und von euch als „ein Geflecht sozio-politischer Zustände in verschiedenen metaphorischen Darstellungsweisen“ beschrieben wurde. Auf der räumlichen Ebene gibt die Installation eine Bewegung vor, die vom Innenhof in den Kern des Gebäudes und von dort auf das Dach, aus dem Haus hinaus, führt. Was verbindet die drei Teile der Arbeit und wie ist es zu dieser räumlichen Anordnung gekommen?
P/p: Was die Installationen inhaltlich verbindet ist sicher die Frage nach Grenzen und den Mechanismen sozialer und politischer Kontrolle, die über diese definiert werden. Es geht um globale Verhältnisse der Abgrenzung, um das Errichten von sichtbaren aber auch unsichtbaren, quasi virtuellen, Mauern. Letztlich auch um die Möglichkeit des Durchbrechens derselben. Bei den beiden Installationen im Innenhof und im Gang – das Auge und der Vorhang – wird das bereits im Titel (Die Entartung beginnt mit hartnäckigem Verstehenwollen und Die wahre Wildnis ist das Land der Weißen) angedeutet. Die dritte Installation, die Kugel am Dach der Casa Encendida, steht als Metapher für das Globale. Der Titel,Die Erde der Köder, referiert darauf, dass wir in einer Welt, in der immer mehr Einzelentitäten von immer weniger Großkonglomeraten verschluckt werden, das letzte Glied der Köderkette sind… oder sein könnten. Nicht zuletzt, weil wir uns zunehmend von dieser Vorstellung einer universal anwendbaren und übertragbaren Ordnungsstruktur verführen lassen. Köder sind ja etwas sehr Ambivalentes. Einerseits geht es natürlich immer um Verlockung, Verführung, gleichzeitig haben Köder aber auch einen gefährlichen Aspekt, sie sind oft Fallen, in die man tappt – oder in die man sich hinein fallen läßt. {Auch im Kunstbetrieb spielt der Köder, die Köderung und Verführung, eine Rolle.} Die räumliche Struktur hat sich ganz pragmatisch aus der Situation vor Ort ergeben. Aber wir mochten auch diese Linie, die sich von einem repräsentativen Eingangsbereich, von dem Ort, den alle Besucher zuerst sehen, quasi in die Eingeweide des Hauses zieht und dann wieder aus diesem hinaus führt.

Wenn wir uns die in der räumlichen Abfolge erste Installation, das Auge im Innenhof, ansehen, wie stellt sich hier das Thema von Grenzen und Kontrolle dar?
P/p: Bei der Installation im Innenhof ging es uns um das Zusammenspiel von Sichtbarkeit, Kontrolle und Tarnung. Wir wollten, dass man, wenn man das Gebäude betritt, sogleich auf diesen Kontrollmechanismus stößt – der sich dem Betrachter aber nicht unmittelbar, sondern erst im zweiten Anlauf erschließt. Der Besucher bemerkt nicht sofort, dass er beobachtet wird. Erst wenn er sehr genau hinsieht, entdeckt er in der Struktur des Stoffs das Auge, das ihn beobachtet. Die Kontrolle ist verdeckt und bleibt potentiell unbemerkt, so wie ja auch Kontrollmechanismen oft sehr subtil angelegt sind. Uns hat an dem Bild des Auges, das durch ein Knopfloch sieht, diese Geste des Sich-Versteckens und Nicht-Deklarierens interessiert, weil eben das bei Kontrolle oft eine wichtige Rolle spielt. {Natürlich auch beim Voyeurismus, was wieder die Frage aufwirft, wer tatsächlich wen kontrolliert – derjenige, der aus seinem Versteck zusieht, oder derjenige, der dieses Zusehen auf sich zieht.} Gleichzeitig ist der Blick, den das Knopfloch freigibt, natürlich ein sehr enger und eingeschränkter. Hier knüpft auch der Titel, Die Entartung beginnt mit hartnäckigem Verstehenwollen, an: Jedes Verstehen, das versucht oder behauptet, seinen Gegenstand erschöpfend zu behandeln, muss diesen Gegenstand einschränken und abgrenzen, d.h. es muss ihn auf bestimmte Aspekte reduzieren und sehr viele andere Aspekte ausblenden. Unsere ganze Begrifflichkeit beruht letztlich darauf, dass wir die Objekte, die wir bezeichnen, nur in einer gewissen Hinsicht wahrnehmen.

Anders betrachtet ist die „Stoffwand“, die das Gesicht verdeckt, aber auch eine Art von Mauer?
P/p: Ja, natürlich. Eine Mauer, die in Form des Knopflochs eine – wenn auch nur ganz kleine, fast tückische – Durchlässigkeit hat: Es findet sich eben immer eine Lücke, in jedem System.

Für die zweite Installation habt ihr in den Gängen der Casa Encendida einen 15m langen Vorhang aus Papier installiert. Der Titel Die wahre Wildnis ist das Land der Weißen läßt viele Assoziationen anklingen, ist aber doch erst einmal eher überraschend?
P/p: Der „Vorhang“ errichtet eine dritte Mauer im Gang, die den Raum teilt. Wir haben den Gang also halbiert – oder man könnte auch sagen verdoppelt – und in zwei Hemisphären gespalten. Die Teilung als solche ist völlig gleichwertig, es ist nicht eine Seite besser oder schlechter als die andere, und die Grenze als solche ist eine Fiktion: beide Seiten haben dieselbe Funktionalität, lassen den Besucher in dieselbe Richtung gehen. Das Begehren, auf die jeweils andere Seite zu wechseln, entsteht eigentlich erst durch diese fiktive Grenzziehung. Gleichzeitig ist durch die Materialität der Mauer, das Papier, deren Durchstoßbarkeit schon vorgegeben. Diese Installation hat aber auch ein sehr sinnliches, sehr poetisches Element, mit dem Ton und der Berührung – es sind sehr haptische Objekte.
Der Titel spielt mit der Umdrehung eines Verhältnisses, das in der Kulturgeschichte der westlichen Welt immer als selbstverständlich angenommen wurde. Ein Verhältnis, das zudem immer – und ebenso selbstverständlich – mit einer klaren Grenze bzw. Dichotomie zwischen „Gut“ und „Böse“ assoziiert wurde: Man muss das Gute und das Böse klar voneinander trennen und abgrenzen können. Wenn wir uns die Geschichte ansehen, hat sich die westliche Welt – haben sich die „Weißen“ – immer als „richtiger“ empfunden. Natürlich ist die Monopolisierung von „Richtigkeit“, dieses Reklamieren des Einzigen und des Wahren für bestimmte politische Systeme oder Religionen, in jedem Fall problematisch… es gibt ja viele, die das tun. Und der Titel stellt das eben auf den Kopf – oder stellt es zumindest in Frage.

Vielleicht können wir zum Abschluß noch einmal kurz auf den dritten Teil der Installation zurückkommen.
P/p: Im Fall von Die Erde der Köder ging es uns vor allem um den Aspekt der Verteilung – auch der globalen Verteilung – von Ressourcen. Es gibt auf dem Dach einen Lehrparcours zur Umwelterziehung für Kinder und Schüler und wir haben das mit einer überdimensionalen, mit Vogelfutter gefüllten Kugel aufgegriffen. Mit dem Hintergedanken, dass in Madrid – im Gegensatz etwa zu Wien oder kälteren Ländern – die Vögel eigentlich auch im Winter keine Fütterung brauchen. Madrid ist ja eine sehr reiche Stadt, es sind oder wären ausreichend Mittel vorhanden, um alle zu versorgen, sogar ausreichend, um etwas zu füttern, das eigentlich keine Fütterung braucht. Das hat uns gereizt: In den Raum zu stellen, was in dieser Stadt – aber ebenso an vielen anderen Orten – in jeder Minute, in jeder Sekunde bestens funktioniert: Es wird produziert, es wird gekauft, es wird mit Gütern gehandelt, die eigentlich die Menschen in Madrid nicht mehr brauchen. Eine Gesellschaft, die so vieles produziert, stößt dann auch vieles wieder ab und bringt diese Güter, die sie selbst nicht braucht, irgendwohin, wo sie oft noch weniger gebraucht werden. Das ist eine Art von doppeltem Spiel merkantiler Umflüsse. Zuviel des Falschen am falschen Ort. Das war ein Aspekt des Ganzen. Die Kugel hätte eigentlich ganz voll sein sollen, um als Objekt diesen Überfluss zu zeigen, und sollte ursprünglich über dem Haus schweben, ohne direkten Berührungspunkt. Wir wollten die Kugel mit einem Kran von der Strasse über dem Haus hängend montieren, so dass sie von Außen eindringt ohne etwas zu berühren – also eigentlich auch nicht da ist. Ein ambivalenter Zustand… Letztlich haben die bürokratischen Strukturen des Hauses und natürlich anderer Stellen das nicht zugelassen. Aus budgetären und behördlichen Gründen kam es also nicht zum Kran. Wir haben einen Schwenk zur stabilen, auf einem Gerüst ruhenden Kugel gemacht.

Verteilung hat natürlich immer mit Grenzen zu tun?
P/p: Ja, natürlich. Vielleicht geht es hier aber auch um unsichtbare Grenzen, die uns ständig umgeben, um die Unüberbrückbarkeit, die es zwischen uns und anderen immer gibt.

Eure Arbeiten spielen immer wieder mit verschiedenen Ebenen der Rezeption und man hat oft den Eindruck, dass es eine ganz bewusste Un-Eindeutigkeit gibt. Dass ihr eine bestimmte Perspektive, die wir alle als selbstverständlich akzeptiert haben, kippt und umdreht, und den Betrachter dadurch auffordert, noch einmal – und ganz anders – hinzusehen. Gleichzeitig laßt ihr aber sehr offen, was man sehen kann.
P/p: Ja, weil es einfach viel zu viele Fragen gibt. Und noch viel mehr Antworten. Man kann die Komplexität nicht auf eineEinfachheit reduzieren. Das können wir nicht – und das wollen wir auch nicht. Das wäre fast anmaßend.

Interview: Susanne Koppensteiner